„Das Bundesverfassungsgericht entscheidet bei Meinungsverschiedenheiten oder Zweifeln über die förmliche und sachliche Vereinbarkeit von Bundesrecht oder Landesrecht mit diesem Grundgesetze oder die Vereinbarkeit von Landesrecht mit sonstigem Bundesrechte auf Antrag der Bundesregierung, einer Landesregierung oder eines Viertels der Mitglieder des Bundestages.“
Während Art. 93 Abs. 1 Nr. 2 GG an den Antragsgrund somit nur geringe Anforderungen stellt und bloße Zweifel genügen lässt, formuliert § 76 Abs. 1 Nr. 1 BVerfGG deutlich strenger: Der Antragsteller muss die zu überprüfende Norm für nichtig halten. § 76 Abs. 1 Nr. 1 BVerfGG verschärft die Regelung in Art. 93 Abs. 1 Nr. 2 GG danach in zweifacher Hinsicht: Zum einen reichen bloße Zweifel nicht aus und zum anderen muss gerade der Antragsteller (und nicht irgendwer) die Norm für nichtig halten. Streitig ist nunmehr, ob diese Einschränkung in § 76 Abs. 1 Nr. 1 BVerfG dazu führt, dass diese Norm (teilweise) verfassungswidrig oder jedenfalls verfassungskonform auszulegen ist. Das BVerfG geht davon aus, § 76 Abs. 1 Nr. 1 BVerfGG stelle eine verfassungskonforme Konkretisierung des Art. 93 Abs. 1 Nr. 2 GG dar (BVerfGE 96, 133 (137).
Kees meint im Mitarbeiterkommentar zum Bundesverfassungsgerichtsgesetz, dieser Streit spiele in der Praxis keine Rolle. Schließlich genüge die bloße Behauptung der entsprechenden Überzeugung (Kees, in Mitarbeiterkommentar zum BVerfGG, § 76 Rn. 45). Dies aber ist unzutreffend; diese Auffassung verkennt den großartigen Inhalt der Regelung in Art. 93 Abs. 1 Nr. 2 GG. Der Umstand, dass lediglich im Rahmen der abstrakten Normenkontrolle nach Art. 93 Abs. 1 Nr. 2 GG (und nicht etwa ebenso bei der konkreten Normenkontrolle nach Art. 100 Abs. 1 GG) bloße Zweifel an der Verfassungsmäßigkeit einer Norm genügen, um diese dem BVerfG vorzulegen, kann letztlich nur einen Sinn und Zweck haben: Die Regelung soll den am Gesetzgebungsverfahren beteiligten Verfassungsorganen die Möglichkeit gegeben, sich selbst zu hinterfragen. Der Bundesregierung etwa soll die Möglichkeit gegeben werden, ein von ihr selbst entworfenes Gesetz dem BVerfG vorzulegen, das zur effektiven Gefahrenabwehr oder Strafverfolgung bis an die Grenzen des Rechtsstaates geht und diese ggf. sogar überschreitet. Zu denken ist hierbei etwa an die Vorratsdatenspeicherung. Eine Bundesregierung würde in einem derartigen Falle nicht vortragen können, sie sei überzeugt von der Verfassungswidrigkeit des von ihr selbst entworfenen Gesetzes. Plausibel kann sie lediglich vortragen, sie habe selbst Zweifel an der Verfassungsmäßigkeit der Regelung; sie wolle mit der Regelung bis an die Grenzen des rechtsstaatlich Möglichen gehen, diese aber nicht überschreiten.
Die Hamburger Band Tocotronic bringt den Grundgedanken des Art. 93 Abs. 1 Nr. 2 GG gut auf den Punkt:
„Im Zweifel für den Zweifel
Das Zaudern und den Zorn
Im Zweifel fürs Zerreißen
Der eigenen Uniform.“
Es wäre schön, wenn sich das BVerfG diesem Grundgedanken des Art. 93 Abs.1 Nr. 2 GG, der es einem Verfassungsorgan ermöglicht, "die eigene Uniform zu zerreißen", d.h. sich selbst in Frage zu stellen, nicht weiter verschließen würde.