Abschied vom Beurteilungsspielraum?

Mit einer Entscheidung vom 30.10.2019 hat das Bundesverwaltungsgericht (BVerwG) in Leipzig seine Jahrzehnte lange Rechtsprechung zur gerichtlichen Überprüfbarkeit einer Gremienentscheidung aufgegeben. Die Änderung der Rechtsprechung wird mit dem aus Art. 19 Abs. 4 GG folgenden Gebot effektiven Rechtsschutzes begründet, wodurch die teils in der Literatur geäußerte Kritik an der bisherigen Rechtsprechung Beachtung findet.

Anlass für das Urteil war eine Klage des Künstlers Bushido gegen die Einordnung seines Musikalbums „Sonny Black“ in die Liste für jugendgefährdende Medien (sog. Indizierung).

Die Lehre vom Beurteilungsspielraum

Grundsätzlich obliegt den Gerichten die Aufgabe, Rechtsbegriffe auszulegen. Die meisten gesetzlichen Tatbestandsmerkmale sind rechtlich eindeutig oder zumindest durch eine Auslegung hinreichend bestimmbar.

Schwierigkeiten bereitet jedoch die Auslegung sog. unbestimmter Rechtsbegriffe, wie etwa des im Gewerberecht relevanten Begriffs der Zuverlässigkeit (§ 35 GewO). Die Auslegung eines solchen Begriffs ist nicht eindeutig möglich, sondern bedarf vielmehr einer einzelfallbezogenen Prognose unter Abwägung vieler unterschiedlicher Gesichtspunkte.

Auch, wenn eine Verwaltungsentscheidung auf der Auslegung eines derartigen unbestimmten Rechtsbegriffs beruht, muss diese jedoch mit Blick auf die Rechtsschutzgarantie aus Art. 19 Abs. 4 GG gerichtlich überprüfbar sein. Das Gericht würdigt in einem solchen Fall daher selbst erneut alle Umstände des Einzelfalls.

Dieser Grundsatz kann jedoch dann nicht mehr greifen, wenn der Behörde ein eigener Beurteilungsspielraum – wie etwa bei dienstlichen Beurteilungen – eingeräumt wird. Bei diesen Sachverhalten kann das Gericht seine Beurteilung nicht an die der Behörde setzen, da die Entscheidungen nur begrenzt objektivierbar sind. So hängt es von vielen subjektiven Faktoren ab, ob ein Vorgesetzter seinen Mitarbeiter als „besonders geeignet“ für einen Dienstposten einstuft. Die gerichtliche Kontrolle ist in diesen Fällen darauf beschränkt, die Entscheidung anhand allgemeiner Wertungen (z.B. Willkürverbot), der Einhaltung aller Verfahrensvorschriften sowie eines vollständig ermittelten Sachverhalts nachzuprüfen.

Bisher gewährte die Rechtsprechung auch unabhängigen, pluralistisch besetzten Gremien – wie etwa mit Urteil vom 16.12.1971 der Bundesprüfstelle (BPS) – einen derartigen Beurteilungsspielraum. Begründet wurde die Entscheidung mit der besonderen Fachkenntnis und der charakteristischen Zusammensetzung des Gremiums. Dies biete die Gewähr, dass bei der Entscheidung die verschiedenen Gruppen unserer pluralistischen Gesellschaft wirksam werden.

Mit dem Urteil zum Musikalbum „Sonny Black“ wurde der BPS dieser Beurteilungsspielraum aberkannt.

Rechtsstreit um das Bushido-Album „Sonny Black“

Dem Urteil des BVerwG liegt die Indizierung des Bushido-Albums „Sonny Black“ durch die BPS für jugendgefährdende Medien zugrunde. Das Album enthält 15 Titel, welche den kriminellen Lebenswandel des Gangsterbosses „Sonny Black“ beschreiben. Es erschien im Februar 2014 und wurde innerhalb kurzer Zeit mehr als 100.000-mal verkauft. Ab dem Zeitpunkt der Indizierung unterlag das Musikalbum gemäß §§ 15 Abs. 124 Abs. 3 S. 1 JuSchG einem Verbreitungs- und Werbeverbot.

Das aus zwölf Personen bestehende Gremium der BPS – besetzt u.a. von Mitgliedern aus den Bereichen Kunst, Literatur, Buchhandel, Jugendhilfe und Lehrerschaft – beschloss im April 2015, das Musikalbum gemäß § 18 Abs. 1 JuSchG zu indizieren. Zur Begründung führte das Gremium an, dass die Texte durchsetzt seien mit Äußerungen, in denen Frauen und Homosexuelle in vulgärer Sprache herabgewürdigt und verächtlich gemacht würden. Es sei wahrscheinlich, dass Kinder und Jugendliche die uneingeschränkte Bereitschaft zur Gewaltanwendung als vorbildhaft ansähen. Die Belange der Kunstfreiheit (Art. 5 Abs. 3 S. 1 GG) müssten in der gebotenen Abwägung zurücktreten.

Die BPS fiel diese Entscheidung, ohne die ebenfalls am Album beteiligten Rapper Kollegah und Farid Bang anzuhören.

Die Anfechtungsklage von Bushido vor dem VG Köln hatte keinen Erfolg. Auf die Berufung des Klägers hob hingegen das OVG Münster die Indizierungsentscheidung auf. Das OVG führte aus, dass der Beschluss des Gremiums rechtswidrig sei, da alle am Album beteiligten Künstler hätten angehört werden müssen. Eine Heilung dieses Mangels durch das Gerichtsverfahren sei nicht möglich, da das Gericht aufgrund des Beurteilungsspielraums keine abschließende eigene Entscheidung hinsichtlich der Abwägung zwischen Kunstfreiheit und Jugendschutz treffen könne; dies obliege nur dem Gremium.

Mit der Revision wendet sich die Beklagte BPS gegen die Annahme eines Beurteilungsspielraums.

Entscheidung des BVerwG

Die Revision hatte Erfolg, die Berufung des Klägers wurde zurückgewiesen.

Das BVerwG führt aus, dass das OVG das Entscheidungsverfahren des BPS zu Recht beanstandet hat, da eine Pflicht zur Anhörung aller Mitschöpfer des Albums gemäß § 21 Abs. 7 JuSchG bestehe.

Allerdings vermag das BVerwG keinen tragfähigen Grund mehr zu erkennen, welcher die Annahme eines Beurteilungsspielraums des Gremiums bzgl. der Abwägung zwischen Kunstfreiheit und Jugendschutz rechtfertigen könnte. Die pluralistische, besonders sachkundige und weisungsunabhängige Zusammensetzung des Gremiums reiche im Hinblick auf Art. 19 Abs. 4 GG nicht aus, um einen Beurteilungsspielraum zuzuerkennen. Es sei stattdessen Aufgabe der Verwaltungsgerichte, die Abwägung vollumfänglich zu überprüfen. Hiermit gehe die Pflicht der Gerichte einher, zu Unrecht unterbliebene Aufklärungsmaßnahmen – wie Anhörungen – selbst vorzunehmen.

Sodann überprüft das BVerwG die Entscheidung der BPS in vollem Umfang und nimmt eine Abwägung zwischen Kunstfreiheit und Jugendschutz vor, wobei es die Feststellungen des Gremiums als Sachverständigenbeweis verwertet.

Das Gericht kommt zu dem Ergebnis, dass der Beschluss des Gremiums rechtmäßig war. Von dem Album gehen jugendgefährdende Wirkungen aus, deren Eindämmung Vorrang vor der Kunstfreiheit einzuräumen sei. Es liege nahe, dass die Ansammlung sozial-ethisch desorientierter Botschaften einen verheerenden Einfluss auf hierfür empfängliche Minderjährige aus bildungsfernen Bevölkerungskreisen haben kann, zumal „Sonny Black“ erkennbar als alter Ego des Klägers auftrete.

Das Argument des Klägers, Minderjährige seien heutzutage unempfindlich für hemmungslose Gewalt sowie für permanente Demütigungen und Beleidigung anderer in einer vulgären Sprache, vermochte das BVerwG nicht zu überzeugen. Ebenso sei es dem Kläger nicht gelungen, die Feststellung des Gremiums zu erschüttern, wonach dem Album kein gesteigerter Kunstgehalt zukomme.

Wie wirkt sich das Urteil aus?

Das BVerwG hat sich in dem Urteil nicht explizit dazu geäußert, ob die Rechtsprechungsänderung so zu verstehen ist, dass sämtlichen pluralistisch besetzten Gremien der Beurteilungsspielraum entzogen wird. Bis zum „Sonny Black“-Urteil galt die BPS jedoch als Lehrbuchbeispiel für eine Behörde mit Beurteilungsspielraum. Da das BVerwG in der Entscheidung zudem allgemein auf Art. 19 Abs. 4 GG abstellt und dies nicht ausdrücklich auf Beschlüsse der BPS begrenzt, liegt die Annahme einer allgemein gültigen Entscheidung nahe.

Ariane Albrecht und Dr. Fiete Kalscheuer