Formale Macht oder machtvolle Formalie: die Richtlinienkompetenz des Kanzlers

Bundeskanzler Olaf Scholz hat nach Wochen der Querelen innerhalb der Koalition über eine Laufzeitverlängerung bei Atomkraftwerken

nun ein Machtwort gesprochen oder es vielmehr aufgeschrieben.
In einem Brief an die Ministerin und die Minister Steffi Lemke, Robert Habeck und Christian Lindner machte Scholz ausdrücklich von seiner Richtlinienkompetenz Gebrauch und beschloss, dass die gesetzlichen Grundlage für einen Weiterbetrieb von Isar 2, Emsland und Neckarwestheim 2 geschaffen werden solle.

Die Richtlinienkompetenz ist im Grundgesetz in Art. 65 Satz 1 sowie einfachgesetzlich in § 1 GOBReg festgelegt. Der Bundeskanzler bestimmt die Richtlinien der Politik und trägt dafür die Verantwortung. Für die Bundesminister sind die durch den Kanzler festgelegten Richtlinien verbindlich und sollen in eigener Verantwortung verwirklicht werden. Diese eigene Verantwortlichkeit der Minister weist bereits auf ein weiteres Prinzip hin, welches gegenläufig zur Richtlinienkompetenz ist: das Ressortprinzip. Dieses in Art. 65 Satz 2 GG festgelegte Prinzip gibt den Ministern über ihren Geschäftsbereich eine selbstständige Leitungskompetenz und eigene Verantwortung, also gerade keine reine Ausführung von Vorgaben des Kanzlers. Um die verfassungsrechtliche Ménage-à-trois komplett zu machen, legt Art. 65 GG in seinem dritten Satz auch noch das Kollegialprinzip fest, dieses meint die Zusammenarbeit aller Ministerien der Bundesregierung, um bei Streitigkeiten auf kollegiale Weise zu einer Entscheidung, einem Einvernehmen zu kommen.

Diese drei Prinzipen müssen austariert werden. So könnten Zweifel entstehen, ob Scholz seine Richtlinienkompetenz in diesem Fall ausüben durfte und konnte.

Dabei sind das Dürfen und das Können zu differenzieren. Zunächst zum Dürfen.

Das Kollegialprinzip kann dem Ansinnen des Bundeskanzlers keinen Einhalt gebieten. Dieses greift dann, wenn Uneinigkeiten zwischen den Ministerien bestehen, die Fragen betreffen, für die keine verbindlichen Richtlinien festgelegt worden sind.
Das Ressortprinzip könnte der Ausübung der Richtlinienkompetenz entgegenstehen. Dies wäre der Fall, wenn die Anweisung, den Weiterbetrieb der benannten AKW zu ermöglichen, gar keine Richtlinie ist. Es ist möglich, eine Richtlinie als entscheidungsleitende Vorgabe zu verstehen, welche nur die grundlegenden politischen Richtungen vorgibt, aber eben keine konkreten Einzelfälle festlegt.

Allerdings sind auch Entscheidungen über Einzelfälle letztlich politische Entscheidungen, für welche der Bundeskanzler wiederum die volle politische Verantwortung trägt. Diese kann er nur tragen, wenn er auch eine Entscheidung über die Frage herbeiführen darf. Es kommt bei der Richtlinienkompetenz nicht darauf an, ob eine allgemeine politische Weichenstellung vorgenommen werden soll oder eine Einzelentscheidung getroffen wird, sondern darauf, ob diese Frage eine umfassende politische Bedeutung hat. Hat sie das, so kann der Bundeskanzler nur Verantwortung tragen für Entscheidungen, die in seinem unmittelbaren Einflussbereich liegen und bei denen die jeweiligen Ministerinnen und Minister nicht mehr aufgrund ihres Ressortprinzips auf eine eigene Entscheidung bestehen können. Andernfalls müsste der Bundeskanzler ebenso die Verantwortung dafür tragen, dass noch wochenlang um die Frage des Weiterbetriebs gerungen wird und eine Entscheidung zu spät kommt oder entgegen seiner eigenen Überzeugung getroffen wird.

Die Frage des Weiterbetriebs der AKW ist angesichts der aktuellen Energiekrise und dem schon lange anhaltenden Streit, insbesondere zwischen dem Wirtschafts- und dem Finanzminister, von großer politischer Bedeutung und darf somit vom Bundeskanzler im Wege der Richtlinienkompetenz entscheiden werden.

Es bleibt die Frage, ob der Bundeskanzler diese Macht nur formal hat, die angesprochenen Ministerien seiner Anweisung demnach keine Folge leisten müssen oder ob die Ausübung der Kompetenz eine so machtvolle Formalie ist, dass der Bundeskanzler dadurch ein echtes Wort der Macht gesprochen hat, welches er innerhalb der Ministerien entsprechend durchsetzen kann.

Formal ist die gesamte Bundesregierung an die Entscheidung des Bundeskanzlers gebunden. Es steht jedoch kein Instrument zur Verfügung, welches dem Bundeskanzler ermöglichen würde, direkt in den Verantwortungsbereich der Minister „hineinzuregieren“ und die notwendigen Handlungen für diese vorzunehmen. Seine Macht ist insofern formaler Natur. Minister, die sich der Entscheidung nicht fügen wollen, können nicht gezwungen werden, den nötigen Gesetzesentwurf zu fertigen. Der Bundeskanzler müsste in einem solchen Fall die entsprechenden Minister entlassen und die Ministerien neu besetzen. Diese Kompetenz des Bundeskanzlers ergibt sich aus Art. 64 Abs. 1 GG.

Derlei Vorgehen wäre eine weitere Eskalationsstufe, die weit größere politische Implikationen hätte als nur die Umsetzung einer Richtlinie. Entsprechend zurückhaltend werden Minister entlassen, denn es könnte zum Platzen der Koalition führen und eine Regierungskrise verschlimmern.
Die Richtlinienkompetenz ist damit keine so machtvolle Formalie, als dass nach ihrer Aussprache ein Problemkreis endgültig als beendet betrachtet werden kann.

Gleichwohl haben in diesem Fall die betroffene Ministerin und die Minister zu erkennen gegeben, dass sie entsprechend Scholz‘ Weisung handeln wollen und die notwendigen Gesetzte vorbereiten. Allein im Parlament könnte ein ausgearbeiteter Gesetzesentwurf dann noch scheitern. Die Abgeordneten im Parlament sind nicht der Richtlinie des Kanzlers, sondern allein ihrem Gewissen unterworfen, Art. 38 Abs. 1 S. 2 GG.

Der Bundeskanzler durfte seine Richtlinienkompetenz hinsichtlich der Frage des Weiterbetriebs der Atomkraftwerke ausüben. Seine Weisung bindet jedoch nur die Regierung und kann nicht gegen den Willen der Minister durchgesetzt werden. Dennoch ist es mehr als eine formale Macht, die Kanzler Scholz ausgeübt hat. Die formale Ausübung der Richtlinienkompetenz kann als politisches Instrument genutzt werden, um eine Regierungsdisziplin herzustellen. Insofern ähnelt sie der Vertrauensfrage (Art. 68 GG), welche in der Geschichte der Bunderepublik bereits mehrfach gestellt wurde und einige Male das Parlament disziplinieren sollte. Sowohl Bundeskanzler Helmut Schmidt stelle 1982 die Vertrauensfrage zur Disziplinierung des Parlaments als auch Bundeskanzler Gerhard Schröder 2001. Beide wollten sicherstellen, dass ihre Politik vom Parlament generell wie den Koalitionspartnern im Speziellen mitgetragen wird. Im ersteren Fall wurde die Unterstützung hinsichtlich des Nato-Doppelbeschlusses notwendig, im zweiten Fall hinsichtlich eines Afghanistan-Einsatzes der Bundeswehr. In beiden Fällen führte das Stellen der Vertrauensfrage dazu, dass die Politik des Kanzlers, obgleich die Vorbehalte in der Sachfrage weiterhin bestanden, das Vertrauen des Parlaments ausgesprochen und die politischen Entscheidungen mitgetragen wurden.

Für Kanzler Scholz wäre das Stellen der Vertrauensfrage potentiell eine Möglichkeit gewesen, die notwendige Unterstützung für seinen politischen Kurs zu finden. Auch jetzt bleibt ihm die Vertrauensfrage noch als Mittel, sollten die von den Ministerien ausgearbeiteten Gesetzesentwürfe für die Laufzeitverlängerung im Parlament keine Mehrheit zu finden drohen. Die Verbindung der Vertrauensfrage mit einer Sachfrage ist durch das Grundgesetz in Art. 81 Abs. 1 vorgesehen. Die Vertrauensfrage trägt allerdings stets das Risiko in sich, vom Parlament das Vertrauens nicht ausgesprochen zu bekommen. Die Folge dessen wäre nicht unmittelbar die Auflösung des Parlamentes, denn dazu müsste erst ein entsprechender Antrag beim Bundespräsidenten gestellt werden, jedoch wird mindestens die eigene Machtposition erheblich beschädigt. Nur bei entsprechender Dringlichkeit der Sachfrage käme eine solche Verbindung für Scholz damit überhaupt in Frage.

Die Ausübung der Richtlinienkompetenz kann analog dazu bereits im Vorfeld zu einem Gesetzesbeschluss Druck auf das federführende Ministerium ausüben, die Gesetzesvorlagen entsprechend den Vorgaben des Kanzlers zu entwerfen. Auf der anderen Seite kann aber auch Drucken von den entsprechenden Ministern genommen werden, Entscheidungen umzusetzen, die zwar die eigene Zustimmung finden, jedoch konträr zum politischen Willen der Stammwählerschaft stehen. Indem die Entscheidung auf den Kanzler externalisiert wird, wird politischer Druck vom entsprechenden Minister genommen.

Somit ist die Richtlinienkompetenz in jedem Fall eines: ein machtvolles Instrument im politischen Diskurs.

Janina Kusterka                                                                                  Dr. Fiete Kalscheuer