Recht auf Vergessen II: Das BVerfG positioniert sich neu

Das Bundesverfassungsgericht (BVerfG) hat am 06.11.2019 gleich zwei wegweisende Entscheidungen zu der Frage getroffen, inwiefern ein „Recht zum Vergessenwerden“ im Internet besteht (Beschlüsse 1 BvR 16/13 „Recht auf Vergessen I“ sowie 1 BvR 276/17 „Recht auf Vergessen II“).

In letzterer Entscheidung überrascht das BVerfG mit einer unmittelbaren Überprüfung der korrekten Anwendung des Unionsrechts. Das Gericht dehnt damit seinen Prüfungsumfang für die Fälle unionsrechtlich vollständig vereinheitlichter Regelungen auf die europäische Grundrechtecharta (GRCh) aus.

Der Prüfungsumfang des BVerfG

Der Prüfungsumfang des BVerfG bei einer Verfassungsbeschwerde beurteilt sich anhand des jeweiligen Verhältnisses der Grundrechte des Grundgesetzes zum Unionsrecht. Dies wiederum richtet sich danach, ob das einschlägige Unionsrecht den Mitgliedsstaaten einen Umsetzungsspielraum einräumt.

Ist dies der Fall, sind die Grundrechte des GG innerhalb dieses Gestaltungsspielraums anwendbar und treten grundsätzlich neben die der GRCh. Das BVerfG prüft bei einer derartigen Überlagerung vorrangig das GG, wobei es die Grundrechte im Lichte der Charta auslegt.

Liegt hingegen jedoch abschließendes und vollständig vereinheitlichendes, mithin zwingendes, Unionsrecht vor, treten die mitgliedstaatlichen Grundrechte im Rahmen eines Anwendungsvorrangs in der Regel hinter das Unionsrecht zurück. Nur so kann eine einheitliche Umsetzung des Unionsrechts in allen Mitgliedsstaaten gewährleistet werden.

Da das BVerfG nur die Verletzung verfassungsspezifischen Rechts prüft, gelangte das Gericht in jenem Fall (bisher) nur über einen Umweg zur Prüfung des Unionsrechts: Es hat lediglich überprüft, ob das Grundrecht auf den gesetzlichen Richter (Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG) dadurch verletzt wurde, dass ein Fachgericht trotz bestehender Auslegungsfragen hinsichtlich des Unionsrechts der Vorlagepflicht zum EuGH nicht nachgekommen ist.

Nach der Recht-auf-Vergessen-II-Entscheidung bedarf es dieses Rückgriffs auf eine Verletzung der Vorlagepflicht indes nicht mehr um die GRCh anzuwenden.

Der Sachverhalt

Dem Beschluss Recht auf Vergessen II liegt eine Urteilsverfassungsbeschwerde gegen ein Urteil des OLG Celle vom 29. Dezember 2016 zugrunde. Die Klägerin verfolgte mit der Klage einen Unterlassungsanspruch gegen den Suchmaschinen-Betreiber Google.

Die Klägerin, Geschäftsführerin eines Unternehmens, hatte zuvor dem Norddeutschen Rundfunk (NDR) ein Interview bzgl. der Kündigung eines ihrer Mitarbeiter gegeben. Der NDR strahlte das Interview Anfang 2010 im Rahmen eines Beitrags mit dem Titel „Kündigung: Die fiesen Tricks der Arbeitgeber“ aus. Nach Ausstrahlung stellte der NDR ein Transkript des Beitrages in das eigene Online-Archiv.

Bei Eingabe des vollständigen Namens der Klägerin in die Suchmaske des beklagten Suchmaschinen-Betreibers war der Beitrag aufzufinden.

Die Klägerin berief sich vor dem OLG Celle erfolglos auf äußerungs- und datenschutzrechtliche Anspruchsgrundlagen. Mit ihrer Verfassungsbeschwerde rügte die Beschwerdeführerin eine Verletzung ihres allgemeinen Persönlichkeitsrechts und ihres Grundrechts auf informationelle Selbstbestimmung (Art. 2 Abs. 1 i.V.m. Art. 1 Abs. 1 GG).

Was entschied das BVerfG?

Die Verfassungsbeschwerde hatte ebenfalls keinen Erfolg. Das BVerfG bejahte jedoch zunächst – unerwartet – die Beschwerdebefugnis der Beschwerdeführerin, obwohl die deutschen Grundrechte nicht anwendbar seien. Der Rechtstreit vor dem OLG richtete sich zwar nach deutschen Rechtsvorschriften, jedoch setzen diese Vorgaben der Datenschutzrichtlinie 95/46/EG um. Diese Richtlinie räume den Mitgliedsstaaten keinen Gestaltungsspielraum ein, insbesondere sei der Anwendungsbereich des Medienprivilegs (Art. 9 DSRL 95/46/EG) nicht eröffnet. Es handele sich damit um eine vollständig vereinheitlichte Regelung. Der Umstand, dass sich die Beschwerdeführerin auf die Verletzung deutscher Grundrechte beruft, sei für die Zulässigkeit der Beschwerde unschädlich.Trotz der Unanwendbarkeit des GG zieht sich das BVerfG nicht aus der Grundrechtsprüfung zurück. Es führt stattdessen aus, dass es zu seinen Aufgaben gehöre, Grundrechtsschutz auch am Maßstab der Unionsgrundrechte zu gewährleisten.

Zum einen folge die Prüfungskompetenz des BVerfG für die Unionsgrundrechte bereits aus Art. 23 Abs. 1 Satz 1 GG. Das Gericht nehme durch die erweiterte Kompetenz die aus der Vorschrift folgende Integrationsverantwortung wahr, denn Art. 23 Abs. 1 GG sehe eine Mitwirkung der Bundesrepublik an dem Unionsrecht vor. Auf diese Art und Weise entstehe ein eng verflochtenes Miteinander der Entscheidungsträger, wie es dem Inhalt der Unionsverträge entspreche.Zum anderen verweist das BVerfG auf die Gewährleistung eines wirksamen Grundrechtsschutzes. Aufgrund der gemäß Art. 51 Abs. 1 GRCh grundsätzlich bestehenden Anwendbarkeit der Unionsgrundrechte in den Mitgliedstaaten seien diese als Funktionsäquivalent anzusehen. Wäre eine Überprüfung durch das BVerfG nicht möglich, wäre der Grundrechtsschutz unvollständig. Dies sei insbesondere mit zunehmender Verdichtung des Unionsrechts nicht hinnehmbar.

Des Weiteren liege ohne Einbeziehung der Unionsgrundrechte in den Prüfungsumfang eine Schutzlücke vor, da eine Möglichkeit Einzelner, die Verletzung von Unionsrechten durch die Fachgerichte der Mitgliedstaaten unmittelbar vor dem EuGH geltend zu machen, nicht bestehe.

Zuletzt spreche auch der Wortlaut des Art. 93 Abs. 1 Nr. 4a GG nicht gegen die Einbeziehung. Die Vorschrift müsse aufgrund der Integrationsverantwortung zugunsten des Unionsrechts ausgelegt werden.

Sodann nimmt das BVerfG eine Abwägung zwischen den Grundrechten auf Achtung des Privat- und Familienlebens (Art. 7 GRCh) und auf Schutz der personenbezogenen Daten (Art. 8 GRCh) auf der einen und dem Recht auf unternehmerische Freiheit (Art. 16 GRCh) auf der anderen Seite vor. Im Rahmen dieser Abwägung finden zudem die Meinungsfreiheit (Art. 11 GRCh) der Inhalteanbieter und das Informationsinteresse der Internetnutzer Berücksichtigung. Die Entscheidung des Gerichts fällt letztlich zulasten der Beschwerdeführerin aus.

Welche Folgen hat das Urteil?

Zusammenfassend lässt sich festhalten, dass diese Entscheidung – trotz des immensen Bedarfs an Rechtssicherheit hinsichtlich eines „Rechts auf Vergessenwerden“ – weniger wegen der inhaltlichen Auseinandersetzung mit den Grundrechten zukunftsweisend ist, sondern vielmehr aufgrund der Neupositionierung des BVerfG. Für den Einzelnen bedeutet dies eine neue Rechtsschutzmöglichkeit: Die Verletzung von Unionsgrundrechten kann künftig (zumindest im Rahmen einer Urteilsverfassungsbeschwerde) in Karlsruhe gerügt werden.

Ariane Albrecht und Dr. Fiete Kalscheuer